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Karate-Do

KARATE-DO - DER KAMPF GEGEN SICH SELBST IM KARATE

Viel ist schon geschrieben worden über große Siege und besondere Erfolge im Bereich der Budo-Sportarten. Aber um welche Siege geht es eigentlich im Budo, im Karate-Do? Ist es immer nur das „besser" sein als andere? Immer nur ein Vergleich der Leistungen, das Anhäufen sportlicher Erfolge? Ist der Kampf in den Kampfsportarten wirklich nur das Sich-Messen mit Konkurrenten, der Versuch des gegenseitigen Bezwingens zweier Gegner, die Bewertung des Erfolgs anhand von Sieg und Niederlage? Oder meint das Prinzip des Kampfes im Budo nicht vielleicht auch mehr?

Doch an der olympischen Idee des „höher, schneller, weiter" ist selbst im Budo wohl kein Vorbeikommen. Pokale, Titel, Gürtelgrade auf der einen Seite oder Publicity, Geschäftemacherei, Rangelei um Vorstandsposten und fadenscheinige Verbandspolitik auf der anderen Seite bestimmen das Bild. Immer noch - und wohl immer mehr.

Die, die sich um das „wahre" Budo, das Wesen der Kampfkünste, das Verständnis vom „Do" als einen körperlich-geistigen Schulungsweg bemühen, stehen oft im Abseits des Geschehens, werden vom Gros der Aktiven und Funktionäre allenfalls abschätzig belächelt. Die Traditionalisten, die sehr vereinzelt und ohne offizielles oder öffentliches Sprachrohr die zunehmende Versportung des Budo, vor allem im Bereich des Karate, kritisieren, werden entweder als Querdenker links liegen gelassen oder als Störenfriede ausgegrenzt. Sie müssen sich als „Ewiggestrige" bezeichnen lassen, da sie, selber schuld, den Anschluß an die Welt des modernen Budo (und seinen Kommerz) verpaßt zu haben scheinen.

Ist der Erfolg entscheidend?

Aber ist diese Entwicklung richtig? Sind die Budo-Disziplinen wirklich zwangsweise den heutigen, zumal typisch westlichen Bedingungen anzupassen? Ist der sportliche Sieg über einen Gegner das eigentliche Ziel, der einzige Sinn? Ist nur der - zunehmend ja durch Körperkontakt oder besser noch durch K.o. sichtbare -rein äußerliche Erfolge im Karate (bzw. im Budo ganz allgemein) entscheidend, nur weil es dem Zuschauer so gefällt?

Unbestritten geht es in jedem Sport irgendwie um zähl- und meßbare Leistungen. Das ist eben auch ein Aspekt im Karate - aber eben nur einer. Und wem Wettkampf- und Leistungssport-Karate liegt (das sind ohnehin nur wenige), soll in diesem Bereich sein Glück suchen. Wer Interesse an Breitensport- und Vereins-Karate hat, soll sich dem widmen, soll dieses Sportkarate wie jede andere Sportart auch mit Eifer und Freude betreiben. Es geht hier ja nicht darum, das moderne Sport-Karate und seine Anhänger, die die Qualität einer Technik nur nach ihrer jeweiligen Effektivität im Zweikampf (Kumite) oder die Qualität einer Kata nur hinsichtlich ihrer Wettkampftauglichkeit beurteilen, schlecht zu machen. Jedem das seine.

Suche nach dem Sinn

Wer sich jedoch für das ursprüngliche, originäre Budo als Kampf-Kunst und demzufolge für das traditionelle Karate-Do interessiert, sucht hinter den Äußerlichkeiten der Bewegung, der Technik, des Sieges nach dem Sinn des Ganzen. Und hier sucht er richtig, denn die eigentliche Bedeutung der Karate-Praxis erschließt sich erst in der Tiefe, nicht in der Oberfläche. So wenig z. B. ein Schwarzgurt, nur weil dieser eben einen Schwarzgurt hat, ein guter Karate-Lehrer oder gar ein Karate-Meister (ein Sensei) ist - weil die dazugehörigen Qualitäten nicht in den Äußerlichkeiten wie der Farbe eines Gürtels, sondern im dahinter liegenden Können, Wissen und Verständnis vom Karate begründet ist -, sowenig ist Karate-Sport gleichzusetzen mit Karate-Do.

Fundamentale Unterschiede

Hier gibt es ganz fundamentale, ganz wesentliche Unterschiede in der Theorie und in der Praxis, in der Erwartung des jeweiligen Aktiven vom Unterrichtsstoff, im Anspruch an sich selbst, seinen Trainer bzw. Lehrer, an die Kameraden oder Mitschüler sowie im Betreiben, Trainieren, Üben oder „Studieren" der Disziplin.

Aus der Sicht der Traditionalisten, der - wenn man so will -Verfechter der ursprünglichen, also „alten" Ideale und Inhalte, den primär an der Kampfkunst als Schulungs-, Reifungs- oder gar Lebensweg („Do") interessierten Karateka, liegt das Geheimnis der „wahren" Karate-Do nicht im Kampf gegen irgendwelche Gegner, sondern im Kampf gegen sich selbst: Nicht der bereits beschriebene „äußerliche" Erfolg des Sieges über einen anderen, sondern der „innere" (nicht so leicht sichtbare) Erfolg des Sieges über sich selbst, der Erfolg des Sich-selbst-Erkennens, Sich-im-Griff-Habens, Über-sich-hinaus-Wachsens, sprich: der „Arbeit" an seiner eigenen Persönlichkeit via Kampfkunst, via Karate-Do.

Das eigentliche Ziel

Das eigentliche Ziel, Wesen und Prinzip des traditionellen Karate-Do ist der Kampf mit sich selbst, der Kampf gegen seine eigenen Unzulänglichkeiten, Unsicherheiten, Schwächen und Fehler. Zu lernen, mit sich selbst, eben mit seinen persönlichen, individuellen „Macken" zu ringen, an sich zu arbeiten, um eine reife(re), ausgeglichene(re), friedfertige(re) Persönlichkeit zu werden, steht im Mittelpunkt des Karate-Do als Schulungsweg und Charakterschule.

Dabei ist es, nebenbei bemerkt, ein Irrtum anzunehmen, daß die Traditionalisten nur etwa deshalb, weil sie sich nicht nur mit den rein sportlichkörperlichen Aspekten sondern eben auch noch mit den eher „geistigen" Aspekten des Karate-Do beschäftigen, technisch oder kämpferisch schlechtere Karateka seien, als die, die sich gar nicht erst mit dem geistigen „Ballast" auseinandersetzen. Die Karatetechniken und -bewegungen sind ja dieselben, nur deren Bedeutungen werden unterschiedlich bewertet. Aber soll man doch die kämpferische Unterlegenheit ruhig behaupten; denn dieser Vorwurf sollte eigentlich als genau eine der beschriebenen Äußerlichkeiten an den doch um innere Aspekte des Karate-Do bemühten Karateka abprallen, da sie es weder sich noch anderen beweisen müssen.

Innere Werte

Was sind denn nun die inneren Werte, die den Kampf in der Kampf-Kunst bestimmen, den Kampf mit sich selbst ausmachen? Dieses zu beschreiben ist eine der Schwierigkeiten, die dem „geistigen" Wesen des Do als Praxis von (Zen-) Philosophie oder „Reifungs-"psychologie zugrundeliegen. Diese Werte sind kaum zähl- und meßbar. Sie unterliegen im wesentlichen immer der eigenen Beurteilung, der ständig notwendigen Selbstkritik, nämlich der Erkenntnis eigener charakterlicher Schwächen und Fehler, die es zu „bekämpfen", zu „besiegen" gilt. Dabei sind typische Unzulänglichkeiten, allzu menschliche individuelle Macken auch im Training - besonders im Zweikampf - häufig ganz offensichtlich.

Ein guter Lehrer und ein fortgeschrittener Schüler erkennen diese persönlichen Defizite, deren Bearbeitung das Ziel im Karate-Do dann wird. Sie gilt es im (nur vordergründigen) Zweikampf zumindest auch zu bekämpfen. Dazu eignet sich besonders das nicht-wett-kampforientierte Randori, der nicht verbissene Zweikampf. Der andere ist dabei nicht der (zu bezwingende) Gegner, sondern der (hilfreiche) Partner. Er stellt sich quasi zur Verfügung, damit der andere im „äußerlichen" Zweikampf gleichsam seinen „inneren" Kampf mit sich selbst führen kann, sich darum bemüht, seine charakterlichen Schwächen in den Griff zu kriegen, sich darin übt, sie zu erkennen und abzubauen.

Ausbalancieren von Extremen

Solche, z.T. ja auf jeden Menschen zutreffenden und von daher auch jedem selbst bekannten Schwächen und Fehler lassen sich auf zwei Polen festmachen, nämlich einem eher offensiven und einem eher passiven Pol. In einem von diesen gegensätzlichen Polen menschlichen Fehlverhaltens begründeten Spannungsverhältnis liegen die je unterschiedlichen Aufgaben des einzelnen, des Kampfes mit sich selbst im Karate-Do. Die Ausbalancierung von Extremen ist das Ziel, die Übung gerade im Karate-Kampf ist der Weg dorthin. Die sich stellenden Aufgaben werden sehr wohl im Karate selbst, also im Kumite oder Randori, im Verhalten den anderen gegenüber oder im Verhalten während des Unterrichts sichtbar, aber natürlich auch im alltäglichen Leben. Karate-Praxis ist wie eine Lupe für das Leben im Alltag, ein Brennglas für die menschlichen Eigenarten und deshalb auch eine Chance, sich hier zu erkennen, sich hier zu üben, um sich dann grundsätzlich zu verändern.

Der offensive Pol

ist dabei bestimmt durch zu sehr nach außen gerichtete Einstellungen und Verhaltensweisen wie z. B. Geltungssucht, Übermut, Imponiergehabe, Arroganz, Siegeseifer, Profilierungssucht, Machtphantasien, Sich-Beweisen-Müssen, Aggressivität, Größenwahn, Leistungsorientierung, Über-Aktivität, RisikoLust, Zerstörungswut, Rücksichtslosigkeit, Egoismus, übertriebene Härte, Gefühlskälte, Übereifer, Schauspielerei, Karrierismus, Besserwisserei, Machotum, Streitsucht, Ramboismus, Gewissenlosigkeit...

Der passive Pol

ist gekennzeichnet durch eine zu sehr nach innen gerichtete Orientierung, die sich bemerkbar mache z. B. in: Mutlosigkeit, Versagensängste, Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit. Mißtrauen, Pessimismus, Abhängigkeit, Unsicherheit, Stillstand, Kontrollverlust, Sicherheitsdenken, Lustlosigkeit, Selbstmitleid, mangelnde Spontaneität, Verweichlichung, mangelnde Konfliktfähigkeit, Autoritätsglauben, Resignation...Im Abbau dieser Extreme oder aber auch im Lernen, damit umzugehen, liegt der Kampf gegen sich selbst. Das eine Extrem des Offensiv-Pols basiert auf Selbstüberschätzung, das andere des Passiv-Pols auf Selbstwertzweifeln. Beides wird im Karate sichtbar. Man sieht es leicht bei dem anderen, weniger bei sich selbst. Man kämpft ja auch leichter mit einem anderen, als mit sich selbst. An sich selbst zu arbeiten, ist unbequem, der Erfolg nur schwer und langwierig zu erzielen, der Sieg über sich selbst ist allzuhäufig nur zeitweise, kurzfristig, oft nur für den Augenblick. Und doch so wichtig.

Sich selbst nicht beweisen zu müssen, zumal in der Kampfsituation mit Partner, ist die eigentliche Karate-Do-Schulung, die leicht über die Lippen gehende Karate-Do-Philosophie und so schwer zu meisternde Karate-Do-Praxis. Wer kennt nicht das Bedürfnis, sein Können, seine Überlegenheit den anderen spüren zu lassen, ihm zu zeigen, daß man gut, daß man besser ist als er? Sich zu beherrschen, zu (be-) zwingen, macht aus der - vermeintlichen - Niederlage (in den Augen des anderen) den eigentlichen Sieg. Den Sieg über sich selbst.

Aber auch sich nicht zu trauen, sich unterlegen zu fühlen, unsicher zu sein, ist ein Handicap in einer Kampfsituation mit Partner. Mut zu fassen, sich zu stellen und aktiv zu werden, ist hier der Erfolg, der eigentliche Sieg. Den Sieg über sich selbst.

Aber auch sich nicht zu trauen, sich unterlegen zu fühlen, unsicher zu sein, ist ein Handicap in einer Kampfsituation mit Partner. Mut zu fassen, sich zu stellen und aktiv zu werden, ist hier der Erfolg, der eigentliche Sieg. Auch bei formaler Niederlage gegen den „Besseren".

Harmonisierung

Der Kampf gegen sich selbst im Karate-Do liegt in dem Versuch der Harmonisierung seiner selbst, der Überwindung von Selbstüberschätzung und Selbstwertzweifeln. Ziel des so verstandenen und betriebenen Karate-Do ist es, durch Training und Übung zu einer realen Selbsteinschätzung zu gelangen, Selbstvertrauen und Selbst-bewußt-Sein zu entwickeln.

Über den Weg des Karate-Do läßt sich dies lernen. Da die selbstsichere Persönlichkeit auf der Grundlage von Können, Wissen und Verständnis (also von Kompetenz) angemessene Selbst- und Nächstenliebesfähigkeit entwickeln kann und von daher zu Mitmenschlichkeit, Solidarität und Friedfertigkeit fähig ist, ist solche Karate-Do-Praxis immer auch ein Weg zur Gewaltlosigkeit.

So ist der „wahre" Karate-Kampf der Kampf gegen sich selbst und der „wahre" Karateka sein eigener „Therapeut".

 

Text: Dr. Jörg-M. Wolters (3. Dan)